Endlich! … Von der Elbe herauf kommt eine kühle Brise, die den Schweiß der letzten Stunden auf meiner Stirn trocknet. Die Steine der Sächsischen Schweiz hatten viel Energie und Kraft gekostet. Die Sonne, die heute heiß und unerbittlich vom Himmel brannte, hatte in der baumlosen Landschaft zwischen den kuriosen Steinsäulen und -plateaus leichtes Spiel. Nicht zuletzt nervten zu Beginn die vielen Wochenendausflügler, die die Schönheit der Gegend genießend, aber doch schwatzend und lachend die Wege bevölkerten. Nicht nur einmal sehnte ich mich in die Ruhe des dunklen Erzgebirg’schen Waldes zurück. 

Aber jetzt ist’s fast getan! Langsam nehme ich den schmalen Pfad hinab zum Elbufer. Dabei geht langsam die Sonne in meinem Rücken unter und taucht das unter mir liegende Elbtal in das goldene Licht später Sommertage, das ich so sehr mag. Erschöpfung macht einem Hochgefühl Platz, dass Freude, Glück und Zufriedenheit in sich vereint. Auf der anderen Elbseite sehe ich in einem engen Tal die wenigen Häuser von Schmilka, dem letzten Ort auf deutscher Seite. Jetzt nur noch mit der Fähre übersetzen, den letzten Stempel im Ort abholen und zur Belohnung ein kühles Bier in dem kleinen Gasthof direkt am Fluss trinken. In meine Freude mischt sich plötzlich Wehmut. Ich gehöre zu denjenigen, die nicht das Ende eines Wanderweges herbeisehnen und das Ende eher als bittersüß empfinden. Mit ein paar Geldmünzen bezahle ich beim Fährmann die Überfahrt auf der Elbe. Langsam tuckert die kleine Personenfähre los und ich schaue auf das dunkle Wasser, das dick und träge nach Nordenwesten rollt. Jetzt geht die Sonne fast unter, wirft ihre letzten Strahlen in das schmale Flusstal. Ich muss schlucken. Ich blicke auf, schaue auf die andere Uferseite, der wir uns langsam nähern. Dort wartet schon eine Freundin aus Dresden, die mir grinsend zuwinkt. 

    Der Sommer 2020 wurde ein ganz anderer, als geplant. Die Pandemie hatte nicht nur alle Pläne zunichte gemacht, sondern, so zumindest fühlte es sich an, die Stop-Taste für das Leben gedrückt. Ich hatte Wanderpläne, ja, aber eigentlich nicht in Deutschland und nicht allein. Aber es gibt Dinge, die kann man einfach nicht kontrollieren und deshalb galt 2020 noch mehr wie selten zuvor, das beste aus der Situation zu machen. Und zuträglich zu diesem Besten war, dass ich, nachdem ich Peking, wo ich bis vor kurzem noch wohnte, verlassen hatte, nicht irgendwo gestrandet war, sondern in meinem alten Heimatdorf inmitten des Thüringer Waldes. Der Rennsteig, den ich so gut kenne, verläuft in nur 8 Kilometer Entfernung und teilt sich auf den Höhen des Thüringer Waldes seinen Weg mit einem anderen Fernwanderweg, den ich bis in diesem Jahr weder kannte noch irgendwann bemerkt hatte. 

Im Frühsommer auf einer Wanderung auf dem Rennsteig begegnete ich einem Wanderer, der irgendwo östlich der Schmücke auf einer Bank sitzend in der Sonne Rast machte. Ich setzte mich zu ihm, weil ich neugierig war, ob er den Rennsteig nach Blankenstein lief oder entgegen der historischen Wanderrichtung, wie ich, nach Hörschel. Er lachte kurz auf und antwortete, weder noch – er laufe auf dem „Internationalen Bergwanderweg der Freundschaft“ von Eisenach nach Budapest. Ich machte große Augen und stellte eine neugierige Frage nach der anderen. Wir tauschten uns noch über andere Wandererfahrungen aus und dann ging jeder wieder seiner Wege. 

Der Gedanke an den Eisenach-Budapest-Fernwanderweg, kurz EB, jedoch ließ mich nicht mehr los. Ein Fernwanderweg, der oberhalb von Eisenach an der Wartburg beginnt, sich über die Höhen von Thüringer Wald, durchs Vogtland, übers Erzgebirge und die Sächsische Schweiz nach Tschechien und weiter durch Teile Polens, der Slowakei bis nach Budapest zieht? Ich hatte Blut geleckt! Zumindest den deutschen Abschnitt, der etwa 720 Kilometer lang ist, wollte ich bewandern und das Leben im Pandemie-Jahr 2020 nicht zu schwer werden lassen. Ich war schon so einige Fernwanderwege auf der Welt gegangen, aber bis auf den mit 168 km fast schon kurzen Rennsteig, hatte ich keine Erfahrung in Deutschland. Ganz gespannt darauf, wie es sich also anfühlen würde, in Deutschland auf lange Wandertour zu gehen, stand ich an einem Sonntag im Juli an der Wartburg und machte meine ersten Schritte Richtung Schmilka. 

Erst bei der Abzweigung des EB in Neuhaus am Rennweg, wo er nicht weiter dem Verlauf des Rennsteig folgt, sondern hinab ins wunderschöne Schwarzatal führt, setzte dieses Kribbeln in der Magengegend ein, dass ich immer dann verspüre, wenn ich die Füße das erste Mal auf unbekannte Wege setze. Die letzten Tage waren eher ein Einlaufen, aber jetzt begann etwas Neues: Bald schon hatte ich das Schwarzatal hinter mir gelassen, bin durch Saalfeld gelaufen und erreichte endlich das sogenannte „Thüringer Meer“, Deutschlands größte Stauseeregion, wo durch das Anstauen der Saale fünf Stauseen entstanden. Weiter ging es im sanften Auf und Ab durchs Vogtland bis ich schließlich im Erzgebirge ankam. Auf diese Region hatte ich mich ganz besonders gefreut. Die Anstiege wurden wieder steiler, die Wälder dunkler und die Entfernungen zwischen Siedlungen länger. Hin und wieder kam man der deutschen-tschechischen Grenze nah. Meist waren diese Gebiete durch Ortschaften geprägt, wo viele Häuser leer standen, gekritzelte Werbetafeln auf Billigangebote auf der anderen Seite der Grenze hinwiesen und wo alte Grenzübergangsgebäude verfielen. 

Aber die Region lebt vom traditionellen Handwerk: Weihnachtsbegeisterte kommen im Erzgebirge ganz auf ihre Kosten, denn hier werden in liebevoller Handarbeit Nussknacker, Schwibbögen und weiterer Weihnachtsschmuck hergestellt. Ich hingegen fand mein Glück eher in der Stille der Abgeschiedenheit. Nur dann, wenn der EB parallel mit dem Kammweg, der kürzer und bekannter ist, verlief, kamen mir einige wenige Wanderer entgegen. Auf dem EB hingegen blieb ich eine Ausnahme.

Mich faszinierte die Bergbautradition der Gegend, wo man hin und wieder noch mit dem Bergarbeitergruß „Glück auf!“ gegrüßt wird. Glück für das Finden neuer Erzvorkommen, aber auch für eine sichere Rückkehr an das Tageslicht nach einer langen Schicht soll er verheißen. Nun ja, auch auf der Erdoberfläche beim Wandern kann man manchmal Glück gut gebrauchen. 

Dass die Region vom Bergbau und einer holzhungrigen Weiterverarbeitung des geschürften Erzes lebte, ist heute noch an vielen Stellen in den Wäldern zu sehen. Aber es wird fleißig aufgeforstet und die Abgase der Schwerindustrie beiderseits der Grenze gehören größtenteils der Vergangenheit an. 

Irgendwann ging die Stille des Erzgebirges in den Trubel der Sächsischen Schweiz über. Ich war hin und hergerissen: Einerseits ist dieses Gebiet ein landschaftliches Juwel, andererseits ist es, insbesondere in diesem Corona-Sommer des Jahres 2020 heillos überlaufen. Insbesondere in Königstein anzukommen, war ein Schock für mich! Überall Menschen, Autos, Fahrräder. Dazu rauschten pro Stunde einige Güterzüge auf der Bahntrasse durch das enge Elbtal, von dessen Felswände der Lärm widerhallte, in Richtung Osten. Ich konnte es kaum erwarten, am nächsten Morgen weiterzuwandern. Aber entgegen der eigentlichen Routenführung auf der nördlichen Elbseite, musste ich, weil ich einfach keine Übernachtungsmöglichkeit für die letzte Nacht bekommen habe und weil man wildes Campen erst recht im Nationalpark tunlichst vermeiden sollte, die letzten Kilometer auf dem EB etwas abändern. Anstatt bei Königstein über die Elbe zu setzen und in Richtung Hohenstein und weiter nach Bad Schandau zu wandern, wanderte ich weiter über den Gohrisch, den Papststein und die Kaiserkrone an das Elbufer und setzte nah der tschechischen Grenze nach Schmilka über. Die Landschaft war atemberaubend: Die Sandsteinformationen, Tafelberge, die dunkle langsam wogende Elbe. Kein Wunder, dass so viele Künstler, allen voran Caspar David Friedrich, aus dieser Gegend Kraft und Inspiration zogen. 

Die letzten 3,5 Wochen waren toll: Abwechslungsreich, voller neuer Erfahrungen und Erkenntnisse. Es gibt kaum einen besseren Weg, eine Region, ein Land, kennenzulernen und sich selbst darin zu verorten, als zu Fuß. Aber sie waren auch geprägt von der Erkenntnis, dass Fernwandern in Deutschland zwar möglich, aber nahezu unbekannt ist und für mich persönlich keine ständige Alternative, sondern eher ein schöner Kompromiss ist. Trotzdem, jeder Weg ist anders, birgt eigene Überraschungen. Gemeinsam haben Fernwege aber, dass sie ihre Wandernden formen, wachsen lassen. Sei es durch Herausforderungen, sei es durch besondere Begegnungen mit Einheimischen oder den wenigen anderen Wanderern, oder die endlosen Kilometer ganz mit sich allein. Ob ein langer Weg durch die Wildnis, fernab von Zivilisation, oder durch Kulturlandschaft führt – die Füße schmerzen, aber man beendet jeden Weg stärker, voll neuer Energie, weiser und reflektierter. 

Das Ende eines Weges ist immer auch der Beginn eines neuen. 

Mareike Schmidt, Februar 2021

EB Juli/August 2020 Wartburg bis Schmilka

Author

Exploring the world and myself by two feet.

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